Das Europäische Zentrum Erinnerung, Bildung, Kultur (früherer Name: Europäisches Zentrum für Bildung und Kultur) hat seinen Ursprung in der Musikbegeisterung und der Beharrlichkeit einer einzigen Person, nämlich des deutschen Theaterregisseurs und Musikliebhabers Dr. Albrecht Goetze (1942–2015). Beim Studium der Partitur von Olivier Messiaens Quartett auf das Ende der Zeit stieß er dort auf eine Randbemerkung, aus der Ort und Zeit seiner Entstehung hervorgingen: „Komponiert im Stalag VIII A in Görlitz, Schlesien, im Januar 1941“. Der Gedanke an die Umstände, unter denen dieses zeitlose Werk entstanden war, ließ Goetze keine Ruhe, und so fuhr er im November 2001 selbst nach Görlitz. Dort jedoch erwartete ihn eine herbe Enttäuschung: niemand hatte etwas von einem Stalag VIII A gehört. Erst im Ostteil der Stadt, der seit 1945 zu Polen gehört und Zgorzelec heißt, wies man ihn auf einen Weg am Stadtrand hin, der zu einem Birkenwald führte. Die während seines Spaziergangs durch diesen Birkenwald mit seinem kleinen Friedhof, einem Obelisk zum Gedenken an die Kriegsgefangenen und Fragmenten der Stalag-Gebäude empfangenen Eindrücke, assoziiert mit Messiaens Musik, ließen Goetze den Entschluss fassen, seinen bisheriges Lebensmittelpunkt München aufzugeben und sich in Görlitz niederzulassen.
Seine Zielsetzung war klar: an eben dem Ort, wo das Quartett entstanden war, wollte er ein Zentrum für Begegnungen und kulturelle Ereignisse schaffen, die die tragische Tatsache, dass hier über 100 000 Kriegsgefangene festgehalten wurden, deren mehr als 10 000 die Gefangenschaft nicht überlebten, der Vergessenheit entreißen sollten. Dieser Ort – Meetingpoint Messiaen, wie er ihn nannte – sollte daran erinnern, dass die innere Kraft, die die Musik den Menschen verleiht, Freiheitsentzug, Angst und Zukunftsunsicherheit überwinden hilft.
Auf polnischer Seite der Neiße fand er für seine Idee einen Verbündeten: den Geschichtslehrer Roman Zgłobicki, für den die Aufrechterhaltung der Erinnerung an das Stalag und seine Gefangenen seit Anfang der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts zum Lebensinhalt geworden war. Bald kam es zu den ersten Treffen mit Vertretern der Zgorzelecer Selbstverwaltungen, vor allem der Gemeinde Zgorzelec, bei denen Goetze ein interessiertes und wohlwollendes Ohr und dann auch Partner fand.
Im Dezember 2006 – ebenfalls auf Initiative des unermüdlich nach Verwirklichung seiner Idee strebenden Albrecht Goetze – entstand in Görlitz der Verein Meetingpoint Music Messiaen. Goetze war erster Vorsitzender, und der Verein wurde zu einem institutionellen Partner in Gesprächen mit den Selbstverwaltungsbehörden beider Grenzstädte.
Diese Gespräche betrafen die Errichtung eines Gebäudes auf dem Gelände des ehemaligen Stalag, das einmal an dieses erinnern sollte und zugleich eine Möglichkeit für Zusammenarbeit und Maßnahmen zur Integration der Einwohner beider Städte und des Grenzraums schaffen würde. Das geplante Gebäude sollte das Gedächtnis der tragischen Vergangenheit wachhalten, dabei aber auch Symbol für eine gemeinsame Zukunft sein.
Die Bestimmung des Aufgabenumfangs und die Konkretisierung der zu lösenden Probleme bedurften zahlreicher Treffen, Gespräche und Überlegungen. Mit der Realisierung der künftigen Investition wurde die Stiftung Zentrum für Förderung des Unternehmertums beauftragt, eine effiziente Nichtregierungsorganisation, die bereits Erfahrung bei der Durchführung von EU-Programmen besaß, denn es war offensichtlich, dass das Projekt ohne finanzielle Unterstützung aus den EU-Fonds nicht realisierbar sein würde. Die Stiftung erklärte sich bereit, Aktivitäten zu Gewinnung und Sicherung der für die Umsetzung der Investition notwendigen finanziellen Mittel, zu Erstellung und Einreichung des Projektantrags sowie zur Realisierung des Projekts aufzunehmen.
Die Arbeit der nächsten Jahre konzentrierte sich auf die Präzisierung einer den Zielen des künftigen Zentrums gemäßen architektonischen Konzeption, auf die Suche nach einem Verwaltungsmodus und nach Verbündeten und Schirmleuten, sodann auf die Vorbereitung des Antrags auf die Mitfinanzierung des geplanten Gebäudes aus Mitteln des Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung im Rahmen des Operationellen Programms für Grenzübergreifende Zusammenarbeit Polen–Sachsen 2007 – 2013 und schließlich auf die Sicherung des Eigenbeitrags der Stiftung. Unstrittig war, dass das gesamte Gelände des ehemaligen Lagers als Gedächtnisstätte erhalten bleiben solle.
Das Team des Vereins Meetingpoint Music Messiaen begann internationale Workcamps zu organisieren, in denen Jugendliche aus mehreren Ländern unter Aufsicht von Wissenschaftlern Ausgrabungsarbeiten durchführten; hierbei und bei der Vorbereitung von Teilen des Geländes für das Bauvorhaben wurden zahlreiche kleine Gegenstände gefunden, die Kriegsgefangenen gehört hatten.
Am 15. Mai 2009 schrieb die Stiftung, unterstützt durch die Zgorzelecer Selbstverwaltungen, einen Wettbewerb für die Ausarbeitung einer angemessenen architektonischen wie funktionalen Konzeption des künftigen Objekts aus. In einer Sitzung am 24. Juni 2009 in Zgorzelec wählte das Preisgericht die beste der eingereichten Arbeiten aus; den Zuschlag erhielt der irische Architekt Ruairi O’Brien, der in Dresden das Architekturbüro „Architektur. Licht. Raumkunst“ betreibt.
Im September 2009 reichte die Stiftung einen Antrag auf Mitfinanzierung des Projekts ein, der jedoch im Februar nächsten Jahres zurückgenommen wurde, weil sich bis zu diesem Zeitpunkt keine Bank fand, die bereit gewesen wäre, die Investitionskosten zu kreditieren. Dank der Bemühungen der Stiftungsleitung und des guten Willens der Zgorzelecer Verwaltungsbehörden, die die Bedeutung des Projekts für die Region erkannten, änderte die Gemeinde Zgorzelec den Flächennutzungsplan und erließ Bestimmungen, die den Bau des Zentrums auf dem Gelände des ehemaligen Stalag VIII A ermöglichten. Der Gemeinderat fasste Beschlüsse zur Übergabe des für den Bau des Zentrums vorgesehenen Grundstücks an die Stiftung und zur Gewährung einer Kreditbürgschaft mit Hypothek auf die Gemeindegrundstücke. Ähnliche Maßnahmen zur Kreditbürgschaft ergriff die Stadtgemeinde Zgorzelec. Auch wurde endgültig über die Projektpartner entschieden. Am 14. Juli 2010 wurde der Partnerschaftsvertrag unterschrieben: die Stiftung Zentrum für Förderung des Unternehmertums wurde Leader des Projekts, Partner waren der Verein MEETINGPOINT MUSIC MESSIAEN aus Görlitz, die Gemeinde Zgorzelec, die Stadtgemeinde Zgorzelec, der Landkreis Zgorzelec, der Landkreis Görlitz und der Verein der Stifter und Freunde von MEETINGPOINT MUSIC MESSIAEN. Es konnte jetzt auch ein Finanzierungsvertrag mit einer Bank unterschrieben werden.
Zu dieser Zeit fanden die ersten Präsentationen des Projekts statt, u.a. in Warschau, Berlin, Brüssel, Dresden und Wrocław. Idee wie Projekt fanden überall großes Interesse und Anerkennung.
Der Antrag war schließlich im Juni 2011 fertig; im Oktober wurde der Vertrag über die Bezuschussung des Projekts aus Mitteln des Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung im Rahmen des Programms für Grenzübergreifende Zusammenarbeit Polen–Sachsen 2007 – 2013 unterschrieben.
Im Dezember 2011 nahm die Stiftung in Form einer notariellen Urkunde von der Gemeinde Zgorzelec ein unbebautes Grundstück von 6,9307 ha Gesamtfläche, bestehend aus den Flurstücken Nr. 305 und Nr.306/1 (Gemarkung 0007, Koźlice, Am-1), als Schenkung in Empfang. Bestimmung der geschenkten Immobilie waren die Verwirklichung der Stiftungsziele im Kulturbereich und die Errichtung des Europäischen Zentrums für Bildung und Kultur.
Der Beginn der Projektrealisierung musste jedoch wieder verschoben werden, weil Missverständnisse mit dem preisgekrönten Architekten auftraten und die Stiftung gezwungen war, die Konzeption zu ändern und die Erstellung eines neuen Funktions- und Nutzungsprogramms in Auftrag zu geben. Für das nunmehrige Bauvorhaben wurde der im Wettbewerb ebenfalls ausgezeichnete Entwurf des Görlitzer Architekten Christian Weise gewählt. Infolge dieser Ereignisse musste ein Annex zum Projekt eingereicht werden, in dem die architektonische Konzeption für die Anlage des Zentrums geändert wurde, alle für den Wettbewerb festgelegten Anforderungen jedoch beibehalten blieben.
Am 25. Mai 2013 wurde der Annex zum Vertrag über die Bezuschussung des Baus unterschrieben; der Wert des Projekts belief sich auf 3 366 042, 32 Euro.
Nächster Schritt war die Eröffnung der Ausschreibung für die Erstellung der technischen Dokumentation und den Bau des Zentrums. Im Juli 2013 wurde der Bauvertrag unterschrieben, worauf die Übergabe der Baustelle erfolgte. Die Bauarbeiten begannen im Januar 2014, und genau ein Jahr später, im Januar 2015, wurde das Europäische Zentrum für Bildung und Kultur Zgorzelec – Görlitz in Betrieb genommen.
An der Übergabefeier konnte Albrecht Goetze leider nicht teilnehmen, weil er schon 2012 aus gesundheitlichen Gründen Görlitz hatte verlassen müssen.
Seit 2008 finden jährlich am 15. Januar, anlässlich des Jahrestags der Uraufführung von Olivier Messiaens Quartett auf das Ende der Zeit, Konzerte statt, zunächst in einem großen Zelt auf dem Gelände des ehemaligen Stalag VIII A. Im Jahre 2015 ist das feierliche Konzert zum ersten Mal in dem neuen Gebäude erklungen – dem Europäischen Zentrum für Bildung und Kultur.
Ihren Platz fanden im Zentrum erste Elemente einer vom Meetingpoint Music Messiaen erarbeiteten ständigen Ausstellung, die über das ehemalige Stalag informiert. Das Zentrum wurde auch zu einem Ort für zahlreiche Veranstaltungen, die die Menschen beider Länder, insbesondere die Jugend, einander näherbringen.
Von der Eröffnung 2015 bis Herbst 2019 besuchten das Zentrum mehrere Tausend Gäste – Konzertbesucher, Familien ehemaliger Kriegsgefangener aus aller Welt, durch den Grenzraum reisende Touristen sowie Hunderte Workshop-, Seminar- und Konferenzteilnehmer.
Dank der engen Zusammenarbeit zwischen polnischen und deutschen Partnern der lokalen Selbstverwaltungen sowie der fachlichen und organisatorischen Unterstützung seitens der Mitarbeiter des Meetingpoint Music Messiaen konnten seither zahlreiche Treffen und Veranstaltungen zustande kommen. Junge Mitglieder des Vereins führten, zusammen mit dem kleinen Team des Zentrums, Dutzende Gruppen von Jugendlichen und Erwachsenen aus verschiedenen Ländern durch das Stalag-Gelände und berichteten über Schicksale und Leiden der hier einst gefangengehaltenen Soldaten vieler Nationalitäten.
Ziel und Aufgabe des Zentrums ist – neben edukativ-kulturellen Maßnahmen zur Entwicklung des regionalen Bewusstseins und den damit verbundenen Verpflichtungen – die Pflege der Erinnerung an das ehemalige deutsche Kriegsgefangenenlager Stalag VIII A vor allem bei den Menschen aus Polen und Deutschland, aber auch aus ganz Europa. Die Erinnerungsarbeit an diesem Gedenkort soll zu Popularisierung und Wertschätzung der regionalen Geschichte beitragen sowie auf die Bedrohungen durch die wachsenden nationalistischen Tendenzen in Europa hinweisen.
Um die Bedeutung der mit dem Stalag verbundenen historischen Erinnerung im Rahmen der Aktivitäten des Zentrums zu betonen, wurde dieses in Europäisches Zentrum Erinnerung, Bildung, Kultur umbenannt.